Phänomen Vierbergelauf

 

Dr. Johannes Sacherer
Eine der wohl eigenartigsten Wallfahrten im Lande ist der Vierbergelauf. Obwohl oft beschrieben, wissen wir im Grunde so gut wie nichts über Entstehung und Herkunft dieses Umgangs und seine eigenartigen Rituale. Vieles hat sich im Lauf der Jahrhunderte geändert, manches ist in Vergessenheit geraten und
Neues dazugekommen. Unverändert geblieben sind nur das Gehen, die Berge und die magische Anziehungskraft dieses Umgangs.
Sonderheiten

Drei Eigenheiten sind es, die den Vierbergelauf als „Sonderfall“, gewissermaßen als Wallfahrt sui generis erscheinen lassen: Es fehlt ihm ein kultisches Ziel als Abschluß und Höhepunkt, die Schutzheiligen der vier Bergkirchen spielen im Ritual keine Rolle
und der Umlauf ist mit sogenannten „heidnischen“ Kultelementen durchsetzt. Das läßt vermuten, daß die Grundkonzeption dieser Wallfahrt nachträglich verändert wurde und ihre Wurzeln nicht unbedingt im christlichen Boden zu suchen sind. Tatsächlich
spielen die Bergkirchen, sieht man vielleicht vom Magdalensberg ab, heute keine Rolle mehr, und weder mit dem Weg noch mit den Bergen läßt sich eine christliche Tradition verbinden. Ja, in den Bergkirchen gab es nicht einmal Gnadenbilder
oder Reliquien der Schutzheiligen, die man üblichenweise bei einer Kirchfahrt anzurufen pflegte. Kurzum, aus christlicher Sicht war nichts da, was das Landvolk im ausgehenden Mittelalter auf die vier Berge gezogen und die Route dieser Wallfahrt
gerechtfertigt hätte. Dafür war der Umlauf aber stark mit merkwürdigen Gebräuchen durchsetzt, die sich zum Teil hartnäckig bis zum heutigen Tag gehalten haben.
Wegen der vielen Sonderheiten wird man sich bei der Spurensuche und deren Deutung über das „Wissen“ hinaus wohl auch vom „Glauben“ leiten lassen müssen. Irrationale Dinge stehen nämlich im Vordergrund, religiöse Phänomene wie Mythen
und Magie, Volksfrömmigkeit und Aberglauben. Daher könnten die WuIzeln des Vierbergelaufs auch im Zusammenhang mir der heidnischen Götterdämmerung zu sehen sein. Vielleicht ist ein Teil der kelto-romanisch-slawischen Erbmasse in den
Untergrund, in das kollektive Unbewußte der Karantanen, abgesunken und dann viele
Generationen später urplötzlich wieder im Bewußtsein unserer Vorfahren aufgetaucht.
Ältestes bisher bekanntes Indiz dieser rund 50 km langen Wallfahrt ist eine Notiz des Wiener Domherren Ladislaus von Sunthaym aus der Zeit um 1500. Damals besaß dieser Frühlingsumgang im wesentlichen schon seine heutige Charakteristik. Er führte über drei Bistumsgrenzen hinweg durch zum Teil unwegsames Gelände, erreichte in den vier Bergkirchen seine kultischen Höhepunkte und ließ ausgerechnet Maria Saal, den wohl bedeutendsten heimischen Wallfahrtsort, im wahrsten Sinne des Wortes, links liegen.
Außer auf dem Magdalensberg werden seit rund zweihundert Jahren während des Vierbergelaufs keine Messen mehr in den Bergkirchen auf den Gipfeln gefeiert. Diese fielen der josephinischen Kirchenreform zum Opfer:
Fürstbischof Graf Auersperg hatte die barocke Volksfrömmigkeit bekämpft und den Vierbergelauf wie auch andere Wallfahrten verboten. Im Geheimen scheint er weitergelebt zu haben. Dennoch, den aufgeklärten Kirchenstürmern war es gelungen,
den Wesenskern dieser Wallfahrt zu zerstören oder doch entscheidend zu verändern. Die ursprünglichen Ziele, das jeweilige Erreichen der heiligen Orte (später mit den Kirchen) auf den vier Berggipfeln, gingen für immer verloren. Schließlich überlebte
nur die staatsreligiös unbedenkliche äußere Hülle der Wallfahrt mit einigen deformierten „Akzidentien“ (Gerndt) die religionsfeindliche Aufklärungszeit.

Heute beginnt der Vierbergelauf, außer für die Sörger und Metnitztaler die schon zu Mittag in Sörg bzw. Maria Wolschart aufbrechen, mit einer Mitternachtsmesse auf dem Magdalensberg und endet nach rund siebzehn Stunden auf dem Lorenziberg mit einem Segen.

Imagination
Was mag die Menschen im ausgehenden Mittelalter gerade auf diese vier Berge, die der Protestant M. G. Christalnick später (um 1590) die vier Götzenperg nannte, gezogen haben? Es muß schon etwas Besonderes gewesen sein, das einerseits das
Landvolk fasziniert und andererseits nicht im Sinne der Kirche gewesen sein dürfte. Immerhin wurde der Vierbergelauf von den Lutherischen nicht direkt bekämpft. Auch Christalnick machte sich nur über die hastige Eile der Vierberger lustig, verteufelte aber nicht die Wallfahrer, sondern die Berge. Die standen damals im Ruf, heidnische Kultstätten zu sein. Und darin scheint auch das Geheimnis des Vierbergelaufs zu liegen.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß der eine oder andere dieser vier Berge bereits im Neolithikum der Kultberg einer, in der Nähe hausenden Sippe war. Die archaischen Gesellschaften lebten gerne nahe bei ihren heiligen Gegenständen, denn das Heilige
bedeutete für sie Kraft und Leben. Es manifestierte sich in Bäumen, Steinen, Weihern oder Quellen und auf Bergen, an „heiligen“ Orten. Zu ganz bestimmten Zeiten pflegte man diese heiligen Stätten aufzusuchen, um dort heilige Handlungen, etwa
Initiationsriten, vorzunehmen und Mythen zu erzählen. Hier sind die Wurzeln des Wallfahrtswesens überhaupt zu vermuten.
Dem Wallfahrtsgedanken liegt die Überzeugung zugrunde, daß es bestimmte Orte und Gegenstände – etwa Berggipfel oder Reliquien – gibt, in denen sich die Kräfte des Göttlichen zentrieren. Es sind die geheimnisvollen Orte der Kraft, wie sie heute
mitunter genannt werden. Und ein solcher Platz, ob heidnische Kultstätte oder später christlicher Gnadenort, wird als eine Art Schleuse zwischen erlebter und erahnter Wirklichkeit gesehen. Er soll gewissermaßen Katalysator der Imaginationskraft sein und hat durchaus praktische Bedeutung.

Diese heiligen Orte auf den Berggipfeln waren einst die Ziele der Vierbergeläufer. Sie glaubten, daß sich ihnen hier die transzendente Welt öffne und sie mit der Gottheit (und/oder den Heiligen) direkt in Kontakt treten können. Eben dieser Glaube war es, der die Menschen – ob in heidnischer oder christlicher Zeit – immer wieder auf die Berge zog. Dabei ging es
ihnen nicht darum, das Wunderbare zu enträtseln, sondern man wollte durch den Gang zum Heiligen persönlich profitieren. Wallfahren ist eben im Grunde etwas Praktisches und Nützliches – und das schon seit altersher.
Auch die Vierberger machen da keine Ausnahme. Wahrscheinlich befinden sich auf allen vier Berggipfeln solche Kraftorte. Und wie Sunthaym berichtet, glaubten die barfüßigen Wallfahrerinnen, alles erlangen zu können, was sie sich an einer
bestimmten Stelle, eben auf heiligem Boden oder dem Weg dahin, wünschten.
Auch heute gehen die Vierberger mit den verschiedensten Wünschen in diese Wallfahrt und erhoffen deren Erfüllung. Dabei empfinden sie die einstmals heiligen Orte, die zentralen Angelpunkte des Vierbergelaufs, meist gar nicht als solche, selbst wenn zur Zeit noch Kirchen oder Kirchenruinen darauf stehen. Sie vertrauen eben darauf, zur
heiligen Zeit am heiligen Ort (Weg) ihre geheimsten Wünsche, allenfalls in Zwiesprache mit Gott oder Heiligen, geäußert zu haben.
Das Wesentlichste des Vierbergelaufes sind offensichtlich die Berge als Träger dieser
Kultplätze. Alle dieser Wallfahrt eigentümlichen Bräuche, wie beispielsweise das Verknüpfen von Fichtenwipfeln oder das Sprechverbot für Frauen, das Sammeln von Bergerlaub und das Mitnehmen von Erde ebenso wie das Umschreiten der Kirchen und der Getreideaustausch, beziehen sich nur auf die Berge und werden hauptsächlich beim Anstieg vollzogen. Zweifellos sind das Reste einstiger Kultzeremonien, deren Sinn leider in Vergessenheit geraten ist.
Grundsätzlich symbolisiert das Hinaufsteigen auf einen Berg den himmelwärts führenden Weg des Pilgers. Seine Seele wird mit der Gottheit eins. Das Hinabsteigen stellt indes den Abstieg zur Hölle vor dem Aufsteigen in den Himmel dar. Tod und
Auferstehung, das ist die Reise, die bei allen Initiationsriten unternommen werden mußte und die auch Jesus durchgemacht hatte. Für uns Christen real – im Vierbergelauf sinnbildhaft – nachvolIzogen im Leidensweg Christi, dessen bedeutsamste Stationen nach dem barocken Denkmodell die vier Berggipfel symbolisieren sollten. Wallfahrten auf heilige Berge bedeuten Absage an das irdische Verlangen und Sehnsucht nach dem Aufstieg, vom Unvollkommenen und Begrenzten zum Vollkommenen und Unbegrenzten…

Der Vierbergelauf ist zumindest in seinem Kernbereich ein einmaliges religiöses Phänomen. Mangels entsprechender Quellen wird er historisch vorerst nicht exakt faßbar und läßt daher relativ breiten Raum für allerlei Spekulationen und unterschiedliche Deutungen offen. Dessen ungeachtet beruht sein Innerstes auf verschlüsselte Grundwahrheiten des Lebens, die sich früher den Vierbergeläufern über seine Symbolik eröffnet haben.
Heute ist diese weitgehend verblaßt, und soweit wir sie noch zu erkennen vermögen, wissen wir mit ihr meist nichts anzufangen.
Trotzdem sind wir Vierberger Jahr für Jahr am Dreinagelfreitag erwartungsvoll gestellt, um auf den langen Weg über die vier Berge den heilenden Geist zu suchen…